Zum Tod von Erhard Scherner (1929 bis 2024)

09.10.2024
Erhard Scherner

Erhard Scherner und ich kannten uns seit 1978. Der Germanist, Schriftsteller, Lyriker und Nachdichter kümmerte sich um die Jungen und nicht mehr so Jungen, wenn sie in Schwerin beim Zentralen Poetenseminar der FDJ etwas über das Schreiben und vielleicht auch Leben erfahren wollten.

Damals war ich in seinem Seminar. Später wurde ich sein Seminarsekretär, bevor ich selber Seminare leitete. Mit Erhard war ich beim Festival Poesie und Frieden 1983 in Rumänien. Bei Erhard saß ich und wir sprachen unter dem strengen Blick seines Papageis über eigene und fremde Texte. Er redete uns die Bibel ein, frohgemut, dass wir auf das Kommunistische Manifest schon selber kämen. Das für die Politische Ökonomie wichtiger ist, während Altes und Neues Testament eher zu unserer Kunst- und Kulturgeschichte gehören. Erhard war nicht umsonst Ministrant gewesen. Freundlich war er und zäh, er mochte offene Bücher, aber er war kein offenes Buch.

Nach der Friedlichen Restauration wurden die Gelegenheiten des Zusammentreffens seltener. Immerhin im Literaturkollegium Brandenburg, dem er lange angehörte, trafen wir uns, bei Lesungen, oder wir saßen am ersten Mai beim Frankfurter Brückenfest an der Oder mit unseren Büchern. Dann freuten wir uns, wenn Leute kamen und unsere Bücher kauften, aber auch, wenn sie nicht kamen und wir Zeit zum Reden hatten. Über seinen Papagei hat er ein Buch geschrieben, in dem er auch ein bisschen von sich erzählt. Geschichten hat er aus China mitgebracht. Gedichte vom alten Du Fu und von Ho Chi Minh, die er gemeinsam mit der Sinologin Helga Scherner ins Deutsche übertrug. Nach Vietnam wollte er unbedingt noch einmal. Die Kraft reichte nicht mehr aus. Dafür wurden die Gedankensprünge größer, wenn er sich erinnerte an Leute aus dem kleinen Land, den KuBa, dessen Bild er an der Wand hatte, den Fürnberg, den Erhards gestrenger Dienstherr in die DDR retten half, den Professor Hans Mayer aus Leipzig, die Kommilitonin Christa Wolf. Als mir befohlen war, das Schießen zu lernen, trug Erhard Kröten über die Straße. Das war noch nicht die Regel damals. Und dann tauchte er selber auf - als Reservist.

Er konnte lächeln, freundschaftlich, verschmitzt, aber auch so, dass es kleine Eiskristalle gab. Er liebte Chöre, überhaupt Musik. Wenn er sein Urteil abgab, musste man etwas genauer hinhören, um zu merken, um welche Ecke er kam. Manchmal nannte ich ihn im Stillen den kleinen Chinesen. In den letzten Monaten, seine Helga war bereits gestorben, schwanden seine Kräfte. Für ein Besucherstündchen blickte, hörte, sprach er hellwach. So war es, als meine Frau und ich ihn zum letzten Mal besuchten. Jetzt ist er am Ende seines Weges angekommen, der 95 Jahre lang war.
 
DU FU SPRICHT
Es ist nicht wichtig, wann und wo wir waren,
wenn Poesie der Zeit die Runzeln strafft.
Ich hab´s in tausend und dreihundert Jahren
vom fernen China bis zu Euch geschafft.
 
Um Trost zu spenden, muss der Vers bewahren
das Schwesterpärchen: Schönheit und Vernunft.
´s ging ihnen schlecht, wie heut, in jenen Jahren.
Ich nährte sie, gab ihnen Unterkunft.
 
Weil ich nicht reich war, sind sie arm geblieben.
Zum Herrschen fehlte ihnen das Talent.
Die meisten Wege gingen sie getrennt.
 
Es ist, als wär es gestern erst gewesen.
Nun könnt Ihr es in Eurer Sprache lesen,
so wie es Erhard Scherner aufgeschrieben.
 
HENRY-MARTIN KLEMT
Juni 2016

 

Unter anderem von ihm erschienen:

Erhard Scherner: Ho chi Minh, Gefängnistagebuch, Heras Verlag, 2020

Erhard Scherner: Der chinesische Papagei, verlag am park in der edition ost