Der mit 3000 € dotierte ver.di Literaturpreis Berlin-Brandenburg, der für das Genre Lyrik ausgeschrieben war, wurde an den in Berlin lebenden Autor Tim Holland für das Buch „wir zaudern, wir brennen“ verliehen.
Der Jury gehörten die Brandenburger Autorin Ingeborg Arlt, der Berliner Autor Henning Kreitel sowie die ehemalige Leiterin des ver.di-Landesbezirks Berlin-Brandenburg, Susanne Stumpenhusen, an.
Laudatio von Ingeborg Arlt für Tim Holland für sein das Buch „wir zaudern, wir brennen“:
Lieber Tim Holland, sehr geehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,
eine Gewerkschaft legt sich mit Misständen an, ein Autor, wenn er gut ist, mit dem Wortkleister, der Missstände verdecken hilft. So macht Heinrich Heine zum Beispiel aus der Losung "Mit Gott für König und Vaterland" drei Strophen eines Gedichts: "Ein Fluch dem Gotte, zu dem wir gebeten" - "Ein Fluch dem König, dem König, der Reichen " - "Ein Fluch dem falschen Vaterlande" -, Sie kennen ihn ja sicher, den dreifachen Fluch, "Altdeutschland , wir weben dein Leichentuch", und ich kann Ihnen versichern, dass Tim Holland, den wir heute hier auszeichnen, mit Phrasen nicht schlechter als Heinrich Heine umgeht.
Tim Holland, den wir hier auszeichnen – warum?
Um die Würde der Darstellungsabsichten und die ästhetische Qualität der Darstellungsformen geht es ja immer, aber diesmal hatte die Jury auch auf grundsätzlicher Ebene eine Entscheidung zu treffen.
Ist das, was Tim Holland, einsandte, überhaupt Lyrik? Ist das nicht eher Epik? Und: Wird, wenn man sich für ihn entscheidet, dies nicht polarisieren?
Natürlich wird es polarisieren. Das hat Kunst, wenn sie Avantgarde ist, schon immer getan.
Und natürlich ist das Lyrik.Ist das eine spezifische Lyrikform, ein Langgedicht, eine Form, die in den USA zum Beispiel Allen Ginsberg mit seinem berühmten Gedicht "Das Geheul" vertrat. In Dänemark hat Inger Christensen, in Deutschland haben Paulus Böhmer und Rolf Dieter Brinkmann Langgedichte geschrieben. Und damit hier auch wirklich der allerletzte Zweifel ausgeräumt sei, möge das folgende Zitat aus Metzlers Literaturlexikon Sie erschrecken: "Vier Strategien der Organisation des Textmaterials greifen beim Langgedicht ineinander: 1. Heterogenität der Formen, Kontexte, Sprachen; 2. Offenheit von Form und intendierter Aussage; 3. Diskontinuität inhaltlicher Bezüge; 4. Progressionsstruktur analog zur Prosanarration."
Alles klar?
Von der Jury klang es natürlich anders. In der entscheidenden Jurysitzung hieß es: "Kuckt mal, da ist ein Kreis!"
Und in der Tat: Das Langgedicht: "Wir zaudern, wir brennen" von Tim Holland beginnt mit Sätzen, die im Kreis gedruckt sind. Diese Sätze sind nur durch Kommata getrennt, es gibt also keinen Anfang und kein Ende: "erwärmt sich das wasser, erwärmt sich die luft, erstarkt der wind, erstarken die wellen, bricht das eis, erwärmt sich das wasser, erwärmt sich die luft, erstarkt der wind" und so weiter. Der Kreis beschreibt einen Kreislauf, und der Text des ganzen Bandes kreist um das, was in Kreisform auf der ersten Seite mitgeteilt wird.
Was sagt uns das? Form und Inhalt bedingen einander. Die zyklische Struktur entspricht dem Zyklus als Thema.
Und was sagt uns das noch? Auch die Gestaltung des Druckes enthält Informationen. Auch die Typographie in diesem Band ist Bedeutungsträger.
Tim Hollands Langgedicht "wir zaudern, wir brennen" besteht aus drei Teilen. In dem ersten, mit jenem Kreis eingeleitet, wird ein Untergang beschrieben. Zitat: "Da sind menschen unter wasser, die tauchen nicht." Und: "regenfront auf regenfront" Und: "wasser stieg, war gestiegen, stieg weiter." Dieser Teil endet mit: "ein archiv für mögliche zukünfte wurde eingerichtet / nebenan hatten sich neue wesen installiert."
Der zweite Teil besteht aus dem erwähnten Archiv. Er ist überschrieben mit "ANHANG" und gliedert sich archivtypisch in Ordner, und zwar in die Ordner a, b, c und d. Der letzte der Ordner, d, enthält Beschreibungen der neuen Wesen, die sich nebenan installiert haben.
Der dritte Teil heißt "Register". Im Register ist aufgelistet, auf welcher Seite der Grunewald erwähnt wird und auf welcher die Spitzkopfeidechse. Aber man lasse sich da bloß nicht täuschen! Das "Register" ist Teil des Werks, nicht seine Ergänzung. Im Register werden auch der Bildhauer Reiner Maria Matysik, die amerikanische Professorin Donna Haraway und der italienische Biologe Stefano Mancuso genannt - um nur ein paar Beispiele zu geben - Personen, die im Text gar nicht vorkommen. Wohl aber kommen ihre Anliegen vor, ihre Arbeitsthemen, und mit ihrer Nennung erweist sich Tim Hollands Text auch als Teil eines international und interdisziplinär geführten Diskurses.
Eines Diskurses über die Zukunft, die für uns alle ins Wasser zu fallen droht. Eines Diskurses über die Wahrscheinlichkeit, die von Tag zu Tag wächst.
Zeichnen wir also ein lyrisches Werk aus, dessen Thema eine entgleiste Natur ist?
Eben nicht!
Die Natur entgleist nicht! Wenn Plötzen von Baum zu Baum schwimmen, ist das ganz natürlich, sobald der Wald unter Wasser steht.
Wir zeichnen ein lyrisches Werk aus, das sich mit der menschlichen Natur befasst, mit unsrer Natur.
Ich sagte ja schon: Das "Register" ist Teil des Werks. Hinter dem Wort "Schriftführerin" im "Register" sind 14 Seitenzahlen angegeben. Schlägt man sie der Reihe nach auf, erkennt man eine Entwicklung. Man findet, dass die Schriftführerin auf Seite 15 notiert: "das ist die jahreszeit wasser." Auf Seite 29 notiert sie: "die jahreszeit feuer". Auf Seite 31 vermerkt sie, dass die "möglichkeiten von tränen nicht ausgeschöpft " seien. – Hier halte ich mal kurz ein, um Sie daran zu erinnern, dass es zwar auch Freudentränen gibt, aber wenn alles absäuft und Menschen unter Wasser sind, die nicht tauchen, sind das keine Freudentränen, sind das Tränen des Leids. Und was schreibt die Schriftführerin? "Die Möglichkeiten von Tränen nicht ausgeschöpft".
Auf Seite 34 lobt sie schon Wassergetier und auf Seite 45 erscheinen "die jahreszeiten regen, wind und feuer" bereits in einem Schreiben, das von einem Vorstand unterzeichnet ist.
Von einem Vorstand. Das Ungeheure ist zum Normalen geworden. Die Möglichkeiten von Leid werden ausgeschöpft. Adolf Eichmann lässt grüßen.
Die Schriftführerin wird bei Tim Holland zum Topos.
Und das gelingt nun wirklich nicht jedem Lyriker: uns neue Topoi ins Bewusstsein zu rufen.
Und es gelingt auch nicht jedem, so viele lyrische Gestaltungsmittel gleichermaßen zu nutzen. Auch das ist einer der Gründe, den Preis ihm zuzusprechen.
Beispiel eins: Verse, in der alle sinntragenden Wörter den gleichen Vokal haben, finden wir schon bei Goethe: "O wie fühl ' ich in Rom mich so froh", heißt es bei ihm, und dass "Ottos Mops trotzt", wissen wir seit Ernst Jandl. Bei Tim Holland auf Seite 59 trotzt jemand mit den Worten: "Folien, auch moose, rosen, monochromes obst in dosen".
Beispiel zwei: Lautmalerei. Walther von der Vogelweide teilt uns seine Beschwingtheit mit dem lautmalerischen "tandaradei" mit. Und Tim Holland? Nutzt auf den Seiten 62 bis 78 ein sehr, sehr häufiges Doppel-L, um auch lautlich ein Wogen und Wallen, eine Heimat für Quallen, die Wellen, die uns bedrohn, zu erzeugen.
Beispiel drei: Ich habs schon im Zusammenhang mit dem Kreis am Anfang erwähnt: die typographische Gestaltung. Gerade die Seiten mit dem Doppel-L und den Wellen spalten sich in oben und unten, in oben Gedrucktes und unten Gedrucktes, und dazwischen ist Leere.
Oben rollen die Spruchbänder und unten die Wellen. Kommt Ihnen das nicht bekannt vor? Salbungsvolles oben und Katastrophales unten?
Und denken Sie ja nicht, Wesentliches der menschlichen Natur, Sex zum Beispiel, sei weggelassen. Den Ordner c, genannt "heimlichtuereien", möge sich jeder selbst erschließen. "Es gibt keinen trost, der nicht ein körper ist", heißt es dort und ein charmantes Beischlafangebot auf Seite 90 nutzt sogar rhythmisch den Jambus.
Die menschliche Natur, jedenfalls Rudimente davon, finden wir aber auch bei den Wesen der Zukunft wieder. Sie erinnern sich: neue Wesen, die sich nebenan installiert haben. Wir finden sie wieder als Ergebnis von Überlebensstrategien. Den "trotzigen Parasiten", den "Strahling", das "Wechseltierchen" kennen wir doch.
Menschlicher Anstand oder gar, was man menschliche Größe nennt, scheint bei Untergängen nicht so große Chancen zu haben.
"Wir zaudern, wir brennen".
Wir zeichnen Tim Hollands Langgedicht aus, in dem er uns mit lyrischen Mitteln einen Spiegel vorhält.
Ich darf Ihnen zum ver.di-Literaturpreis gratulieren, Tim Holland
wir zaudern, wir brennen
Tim Holland
Verlag Matthes & Seitz Berlin, 110 Seiten, Softcover Klebebindung
Preis: 10,00 €